Von Weißkohl und Brudermord

Der Tag beginnt mit Lennarts neuester Kreation: Der restliche Weißkohlsalat vom gestrigen Abendessen wird mit Rührei zusammen angebraten. Schmeckt. Wenn es mal wieder Gretschka, also Buchweizenbrei gibt, werden wir auch versuchen, die Reste davon mit Rührei zu kombinieren.

Nach einem Abstecher auf den Markt, wo wir Gemüse und Kekse für die nächste Woche kaufen (die Kekse werden wohl nicht so lange anhalten), geht es zum Grabungshaus. Wir sind natürlich wie immer überpünktlich. Kai spricht mich an, er hätte mir gestern gerne sein Profil gezeigt, die Farben seien sehr schön gewesen. Wir holen das dann auf der Grabung nach. Drei Jungs warten schon an seinem Schnitt, „was sollen wir machen?“ fragen sie. Kai sagt das ukrainische Wort für Kelle, das für Handfeger weiß er nicht. Kein Problem, ich zeichne schnell einen Handfeger auf. Das verstehen die sie.

Ich fange an, Kai zu seinem Schnitt zu befragen. „Viel gibt es da eigentlich nicht zu erzählen“, sagt er. Es wird dann doch ein bisschen mehr. Quer durch seinen Schnitt geht ein Stück des äußersten von drei Gräben, welche die Siedlung umgeben. Er meint, dass Stas ziemlich begeistert davon sei, hier eine solche Anlage vorzufinden. Typischerweise sind solche Siedlungen eher von nur zwei Gräben umringt.

In dem Profil (also der Seitenwand) von Kais Schnitt kann man wunderbar die Form des Grabens  erkennen. Ganz oben die dunkle, etwa 30 cm tiefe Schicht, die ackerbaulich genutzt und dementsprechend jedes Jahr vom Pflug durcheinandergewirbelt wird. Einen knappen Meter tiefer wechselt die Erdfarbe zu einem vollen Erdbraun, die Verfüllung des Grabens, in der ein paar vereinzelte Scherben stecken, die tatsächlich eher waagerecht ausgerichtet sind. Daran könne man gut erkennen, wie sich die Schichten aufeinander abgelegt haben, mit jeweils aufliegenden Scherbenstücken.

Darunter folgt eine beige, mit weißen Kalkflecken durchsetzte Schicht, die einen Bogen vollzieht:  der Boden des Grabens.

Kai hat irgendwo einen Zoller ergattert und misst nochmal nach. 150 Zentimeter unter der heutigen Erdoberfläche liegt die tiefste Stelle. Zur Siedlung hin steigt des Graben deutlich flacher an als zur Außenseite in Richtung der Talkante. „Ein Solgraben“, sagt Kai. „In dieser Form ziemlich unnütz als Verteidigungsanlage“. Überhaupt scheinen die Gräben hier nicht der Verteidigung der Siedlung gedient zu haben. Innerhalb der drei Grabenringe finden sich zwar Spuren von einer Art Palisade, jedoch nicht in einer Größe, die für eine richtige Befestigungsanlage sprechen würde.

Außerdem führen mehrere Wege (oder zumindest Freiräume in dem Geomagnetikplan) auf Durchgänge im Grabensystem zu. Viel zu viele Zugänge für eine Verteidigungsanlage.

Die Gräben müssen also eine andere Funktion gehabt haben, eher die einer Siedlungsgrenze. Er kenne sich zwar in der Mythologie nicht allzu gut aus in, aber Romulus Pflugfurche um Rom und den darauffolgenden Brudermord kriege er doch noch zusammen. Eine festgelegte Stadtbegrenzung, das sieht er hier auch.

Ob diese mehrgrabige Siedlungsbegrenzung aber vor dem Errichten der Häuser, danach oder währenddessen stattgefunden hat, weiß Kai nicht. Das wäre natürlich hochinteressant um die Siedlungsentwicklung und damit auch die Entwicklung der Demographie nachzuvollziehen. Für genaueres müsse ich nochmal Stas fragen, sagt Kai. Vielleicht sind die Funde vom letzten Jahr schon geprüft worden. Letztes Jahr wurde nämlich auch schon an der Grabenanlage gegraben, dabei hat man eine Amphorenscherbe aus dem 2. Jahrhundert nach Christus gefunden. Anscheinend haben die Römer diesen Ort oder zumindest Teile des Grabens noch einmal genutzt. Bei einer solchen Mehrperiodikkeit eines Fundortes gerät natürlich einiges durcheinander – wer weiß, was die Römer hier veranstaltet haben. Deshalb auch nochmal ein neuer Schnitt an einem Stück Graben, welches 6000 Jahre lang in Ruhe gelassen wurde. Hier ist alles noch Schicht für Schicht so, wie es einst verfüllt wurde.

In und um den Graben wurden mehrere Tierknochen gefunden, vor allem Langknochen von Rindern, die durch ihre Größe recht gut erhalten sind und in den Gelenkkapseln das für die Datierung wertvolle Collagen enthalten. „Die Aufgabe hier wurde erfüllt,“ sagt Kai „jetzt müssen die Knochen nur noch ins Labor“.

Die Jungs sind inzwischen damit fertig, einen Teil des Bodens vorsichtig möglichst eben zu kratzen und dann zu fegen. „Carago, dobre“, sagt Kai. Die Jungs können zu Andrea und dort weiterarbeiten.

Nachdem Kai die drei Frösche errettet hat, denen sein Schnitt über Nacht zum Verhängnis geworden war, baut er die Fotoausrüstung auf. Jetzt muss er nur noch warten, bis sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, damit er keine harten Schatten auf den Bilder hat. „Frankfurt ist eigentlich ganz cool“, sagt er.

Hier ist es eigentlich auch ganz cool, finde ich.

Eine Antwort auf „Von Weißkohl und Brudermord“

  1. Lieber Jonas,
    auf den neuesten Stand gebracht, grüßen wir dich herzlich und wünschen euch noch einen Superlehmbrocken oder Scherben zum Schluß!
    Guten Ausklang noch,
    wünschen Oma Ursula und Gudrun

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.